Es war Louis Braille, ein Student am Königlichen Institut der jungen Blinden in Paris, der die „Nachtschrift“ der französischen Armee im Jahre 1821 abänderte und zu dem machte, was heute als Blinden- oder Brailleschrift bekannt ist. Zum ersten Mal in der Geschichte hatten blinde Menschen Zugang zu einer zuverlässigen Methode der schriftlichen Kommunikation, was zu einem signifikanten Anstieg ihres sozialen Status‘ führte. Louis Braille wurde als Befreier gefeiert.
Heute, im Zuge einer immer umfangreicheren Digitalisierung von geschriebenen Wörtern und schriftlicher Kommunikation bieten MP3-Player, Hörbücher und Screenreader-Software echte Alternativen zur Brailleschrift und ermöglichen blinden Menschen den Zugang zur geschriebenen Sprache, ohne überhaupt Braille lesen oder schreiben zu können. Einem Bericht des Nationalen Blindenverbandes der USA zufolge erlernen weniger als 10 Prozent der blinden Amerikaner heute noch die Brailleschrift. In den 1950er Jahren waren es noch mehr als die Hälfte aller blinden Kinder.
Es gab in den letzten Jahren eine große Debatte, ob dies die kognitive Entwicklung beeinflusse oder nicht. Und sicherlich hat der Übergang von der schriftlichen zur gesprochenen Sprache sehr weitreichende Konsequenzen, wobei diese wohl mehr kultureller als kognitiver Natur sein dürften. Es geht nicht zuletzt darum, eine eigene Möglichkeit der Kommunikation zu verlieren und die Diskussion dieser Frage wird mindestens genauso leidenschaftlich geführt, wie die Debatte über Cochlea-Implantate für Gehörlose und deren Einfluss auf die Verwendung der Gebärdensprache. Sie ordnet sich letztlich ein in die Debatte um die abnehmende Sprachenvielfalt im Allgemeinen.
Ich möchte hier aber eher die Entwicklungen von neuen Technologien und Braille zum Erlernen des Lesens und Schreibens in den Schulen generell in Beziehung setzen. Denn obwohl für Sehende der Übergang von geschriebenen und gedruckten Texten hin zu digitalen Darstellungsformen etwas fließender und in gewisser Weise unmerklicher verläuft, ist er dennoch nicht zu verleugnen und wird weitreichende Konsequenzen haben: Was wir heute noch unter Spracherwerb und Alphabetisierung (engl: literacy) verstehen, wird sich vermutlich schon bald stark verändern. Im Zuge der Entwicklung neuer Technologien wird Literacy schwerer zu definieren sein.
Wer erinnert sich eigentlich noch an das Schönschreiben? Während die Handschrift noch im vorigen Jahrhundert für offizielle Schreiben und Dokumente unerlässlich war, ist sie dies heute längst nicht mehr. Ganz im Gegenteil, für die meisten offiziellen Dokumente wird heute ein Computerausdruck erwartet und die meisten Leute benutzen Handschrift, wenn überhaupt, dann nur noch für persönliche Notizen und Merkzettel. Man könnte das Erlernen der Handschrift deshalb durchaus gänzlich in Frage stellen. Vor einigen Jahrzehnten prognostizierten Experten bereits, dass das elektronische Zeitalter eine post-literate Gesellschaft hervorbringen würde, in der neue mediale Formen wichtiger seien als das geschriebene Wort. Marshall McLuhan, ein kanadischer Philosoph und Gelehrter, wohl am besten bekannt für den von ihm geprägten Ausdruck „globales Dorf“, behauptete in Understanding Media: The Extensions of Man (1964), dass die westliche Kultur sich hin zu einer „mündlich geprägten Stammeskultur“ entwickeln würde.
Die Frage stellt sich heute im Globalen Dorf neu: Brauchen wir die Schreibschrift überhaupt noch zu unterrichten, um Menschen das Lesen und Schreiben beizubringen? Sicherlich nicht und auch die Konsequenzen wären vermutlich alles andere als schrecklich. Schließlich ist der Aufbau unseres Gehirns flexibel. Beispielsweise übertreffen blinde Menschen in aller Regel Sehende wenn es um das verbale Gedächtnis geht. Dies fand zuletzt eine Studie heraus, die in Nature Neuroscience veröffentlicht wurde.
Statt die Schreibschrift zu lehren, wäre es eher angebracht, digitaler Bildung einen höheren Stellenwert zukommen zu lassen. Nicht zuletzt deshalb, weil auch beim standardisierten Testen immer stärker neue Technologien zum Einsatz kommen. Ab dem Jahr 2011, müssen amerikanische Schüler der 8. und 11. Klassen den schriftlichen Test der National Assessment of Educational Progress (NAEP) auf dem Computer absolvieren. Für Schüler der 4. Grundschulklasse gilt das gleiche ab dem Jahr 2019. Zwar liegt Deutschland, was das standardisierte Testen zur Schulentwicklung angeht, noch um Jahre zurück, allerdings sind auch hier seit PISA, TIMSS und den Bildungsstandards solche Testverfahren keine Seltenheit mehr. Und es ist sicherlich nur eine Frage der Zeit, bis auch hier das Testen auf Computerbasierte Lese und Schreibaufgaben umgestellt wird.
Zwar könnte man argumentieren, dass die Frage von Prüfungen und Unterricht nur eine neue Form der Frage: „Was war zuerst, das Huhn oder das Ei?“ darstellt. Ich würde jedoch behaupten, dass auch ungeachtet aller Prüfungen und Tests innerschulische und außerschulische Bildung sich zukünftig verstärkt digitale Kompetenzen konzentrieren muss und weniger Kalligraphie.
Schließlich werden neue Technologien nicht nur unseren Zugang zum Lesen und Schreiben verändern, sondern auch die Art, wie wir Kunst, Musik, Mathematik, Naturwissenschaften, Fremdsprachen und Literatur lehren, lernen und wahrnehmen. Und wie wir uns an demokratischen Entscheidungsprozessen beteiligen können. Ich bin neugierig und gespannt auf die neuen Ansätze und sehr froh, in einem globalen Dorf leben.